Profit vs. Patient*innen

Melissa Scharwey über bezahlbare Medizin für alle

Wie wird der Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten und Gesundheitsversorgung weltweit gerechter? Im Podcast Heilewelt spricht Madeleine mit Melissa Scharwey von Ärzte ohne Grenzen über politische Kampagnen, globale Gesundheitsgerechtigkeit und inspirierende Erfolge wie die Patentreform für Tuberkulosemedikamente.

Madeleine: Hi, hier ist Madeleine und bevor es losgeht mit der Folge, wollte ich euch noch was von unserem neuen Newsletter vorschwärmen. Der liefert euch nämlich einmal im Monat kurz und knackig die positiven Gedanken, die wir aus der neuen Folge mitgenommen haben, wertvolle Ressourcen zum Weiterlesen und auch einen Sneakpeak, wen wir als nächstes vor dem Mikro haben. Abonnieren könnt ihr den Newsletter auf unserer Website www.heileweltpodcast.com. Schaut mal vorbei.

Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Heilewelt, dem Podcast über positive Zukunftsvisionen in der Medizin. Ich bin Madeleine, Ärztin und spreche hier mit den Menschen, die die Medizin nicht nur verbessern möchten, sondern das bereits tun. In unseren Gesprächen tauchen wir in die Welt medizinischer Vorreiter:innen ein und hören, für welche Visionen sie brennen.


Stellt euch mal eine Welt vor, in der alle Menschen auf der Welt Ärzt:innen aufsuchen können, wann immer sie sie brauchen. In der Medikamente für alle zugänglich sind und schlichtweg niemand mehr sterben muss, weil lebensnotwendige Medikamente einfach zu teuer sind. In dieser heilen Welt werden auch dringend benötigte Arzneimittel, Diagnostika und Impfstoffe erforscht und die Ergebnisse werden allen Ländern der Welt zur Verfügung gestellt.

Eine schöne Vision und ein wichtiger Player, um das zu erreichen, ist Ärzte ohne Grenzen. Ärzte ohne Grenzen leistet in mehr als 70 Ländern der Welt medizinische Nothilfe und setzt sich in politischen Kampagnen für einen gerechten Zugang zu Gesundheitsleistungen weltweit ein. Unsere Interviewpartnerin heute, Melissa Schwarwey, arbeitet als politische Referentin für Ärzte ohne Grenzen und sitzt zum Beispiel mit dem Forschungs- und Gesundheitsministerium in Deutschland an einem Tisch und bringt Forderungen für diesen gerechten Zugang zu Medikamenten weltweit ein.

Wie genau das abläuft, an welchen Stellen man da ganz konkret was drehen könnte und auf welche Reaktionen sie dabei stößt, hat sie mir im Interview erzählt. Ich gehe jetzt sehr, sehr bewegt von den Erfolgsbeispielen, die Melissa mit mir geteilt hat aus unserem Gespräch. Zum Beispiel von der Geschichte von Nandita Venkatesan und Phumeza Tisile.

Die beiden haben als Tuberkulose-Überlebende und Aktivistinnen die Patentverlängerung des neuen Tuberkulose-Medikaments zusammen mit Ärzte ohne Grenzen angefochten. Sie haben Recht bekommen und so können jetzt endlich billigere Generika auf den Markt kommen. Das ist doch ein ganz großartiges Beispiel, wie viel Einfluss man dann doch als kleiner Mensch haben kann und stimmt mich ganz positiv.

Guten Morgen liebe Melissa, ein ganz herzliches Willkommen im Heilewelt Podcast. Schön, dass du heute mit dabei bist.

Melissa: Guten Morgen Madeleine, danke für die Einladung.

Ich freue mich sehr, hier zu sein.

Madeleine: Sehr cool. Wir nehmen den Podcast ja wieder früh am Morgen auf.

Trotzdem ist unsere erste Frage immer, ob du heute schon was Schönes erlebt hast und wie dein Tag bisher war.

Melissa: Mein Tag ist bisher ganz schön. Ich bin zur Arbeit gekommen und habe mich an den Schreibtisch gesetzt, was Kleines gefrühstückt und jetzt spreche ich mit dir.

Und was ich heute Morgen Schönes erlebt habe auf dem Weg zur Arbeit, habe ich sehr viele Kinder in Halloween-Kostümen gesehen, da es gerade die Halloweenzeit ist. Und das war ziemlich süß, diese freudigen Gesichter und diese bemalten Gesichter zu sehen. Genau, das war eine ganz schöne Überraschung, ich hatte das gar nicht mehr so auf dem Schirm.

Madeleine: Ja, sehr, sehr süß. Okay, ja lass uns ins Thema einsteigen, würde ich sagen.

Ich habe mir gedacht, dass wir vielleicht am Anfang so ein bisschen mit ein paar aktuellen Beispielen anfangen können aus der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen. Du bist ja selber, glaube ich, immer in Berlin, oder?

Melissa: Ja, genau. Ich bin in Berlin, ja.

Warum bleiben vermeidbare Krankheiten weiterhin tödlich?

Madeleine: Und nicht weltweit unterwegs. Trotzdem gibt es ja viele Menschen, die für euch im Einsatz sind. Kannst du vielleicht ein paar aktuelle Beispiele mit uns teilen, wie sich ganz aktuell Ungleichheit in der medizinischen Gesundheitsversorgung auf der Welt zeigt?

Melissa: Also ein sehr aktuelles Beispiel, was wir in den letzten Jahren und auch gerade ganz akut immer mehr sehen bei Ärzte ohne Grenzen, sind Ausbrüche von Cholera.

Und das ist ja eine Krankheit, die es bei uns eigentlich gar nicht mehr gibt, aber die wirklich an vielen Orten der Welt, sei es im Libanon, auf Haiti, Malawi, Zimbabwe, also gerade auch im südlichen Afrika, wirklich es sehr viele Ausbrüche regelmäßig gibt. Und wir tatsächlich in den letzten Jahren auch drastische Ansteigungen gesehen haben, wie viele Ausbrüche, wie intensiv die Ausbrüche und wie lange die sich ziehen. Und Cholera ist ja eine bakterielle Krankheit, die sich sehr leicht vermeiden ließe, wenn man den Zugang zu sauberem Wasser hätte, da sie sich eben vor allem auch über verschmutztes Wasser, sei es Abwasser oder Trinkwasser, verbreitet.

Also das ist schon mal der erste Punkt, die Ungerechtigkeit, dass nicht alle Leute Zugang zu sauberem Wasser, zu sanitären Anlagen und zu anderen Hygienemaßnahmen haben. Und zum Zweiten ist es bei Cholera auch so, dass es einen Impfstoff gibt, einen sehr wirksamen Impfstoff, der oral eingenommen wird. Und der kann dann, wenn man sich in einem Risikogebiet befindet, eingenommen werden, rein theoretisch.

Aber wir sehen, dass es nicht genügend Impfstoff gibt. Deswegen wurde vor einiger Zeit, ich glaube, es sind jetzt schon fast zwei Jahre her, tatsächlich auch das Impfprotokoll angepasst, sodass jetzt die Patient:innen nur ein - statt zwei Mal diese Dosis bekommen, um eben so viele Menschen wie möglich kurzfristig zu schützen, auch wenn eigentlich empfohlen ist, dass man zwei Dosen nimmt.

Und die große Frage, die wir uns stellen und die sich vielleicht auch Zuhörer:innen jetzt stellen, aber warum wird dann nicht einfach mehr von diesem Impfstoff produziert?

Und das ist eben genau der Knackpunkt, zu dem ich und meine KollegInnen arbeiten.

Ein Grund, warum dieser Impfstoff nicht ausreichend produziert ist, ist, dass es nicht profitabel ist, den zu produzieren. Es gab mehrere Hersteller und alle bis auf einer sind aus dem Markt ausgetreten. Das heißt, in diesem Moment haben wir nur einen Hersteller.

Es kommt jetzt bald ein zweiter dazu. Und der schafft eben nicht die Mengen, die gerade bei all diesen drastischen Anstiegen an Choleraausbrüchen benötigt werden, herzustellen. Und genau das ist der Knackpunkt von: die Gesundheitsinteressen sind hier ganz klar, wir brauchen mehr Impfstoffe gegen Cholera. Das passt aber mit den Profitinteressen nicht zusammen, dass es eben kein profitabler Markt ist. Weil die Leute, die von Cholera betroffen sind, nicht so viel Geld haben.

Madeleine: Genau, das wäre jetzt nämlich genau meine Frage gewesen. Eigentlich denkt man ja erstmal, das ist ein bisschen skurril, weil es betrifft viele Menschen. Das heißt, viele Menschen brauchen den Impfstoff und er würde viel gekauft werden.

Aber da es wahrscheinlich arme Länder im globalen Süden sind, kann man nicht die Preise aufrufen, die man vielleicht aufrufen würde für den Impfstoff, wenn man irgendeinen Ausbruch in Europa oder in Nordamerika hätte.

Melissa: Genau, also genau dieses Preis- und dieses Profitthema spielt da eine sehr, sehr große Rolle. Und Cholera ist ein Beispiel von vielen Beispielen, wo wir wirklich sehen, dass es Krankheiten gibt, die könnten vermieden werden.

Zum Beispiel durch die Impfung. Das sehen wir auch bei Masern, bei Diphtherie. Auch da gibt es ja im Moment immer wieder Ausbrüche. Es gibt wirksame Impfstoffe und aus verschiedenen Gründen kommen die aber nicht da an, wo sie gebraucht werden. Ich könnte ganz viele Beispiele an Krankheiten aufzählen, wo das so ist. Und dann gibt es auch noch eine andere, also ein zweiter großer Punkt ist, dass es für andere Krankheiten überhaupt gar keine Impfstoffe zum Beispiel gibt oder angemessene Behandlungen.

Da sprechen wir dann von einer Forschungslücke. Das heißt, es wird überhaupt nicht erst geforscht, um für viele sogenannte vernachlässigte Tropenkrankheiten zum Beispiel passende Impfstoffe und Medikamente zu entwickeln.

Madeleine: Genau, also das eine sind ja die Impfstoffe. Das andere ist dann, wenn die Krankheit vorliegt, die Krankheit diagnostizieren zu können und auch behandeln zu können. Fallen dir da noch ein paar Beispiele ein, um das deutlich zu machen, wo diese Forschungslücke aktuell eine Rolle spielt?

Melissa: Genau, also wie gesagt, generell die von der WHO festgelegten 21 sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten. Da ist es bei vielen so, dass es keine angemessene Diagnostik gibt oder eben Impfstoffe oder Medikamente.

Und vielleicht ein ganz konkretes Beispiel, auch aus der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen, ist die Vergiftung durch Schlangenbisse. Was vielleicht eine Krankheit ist, die wir gar nicht so hier auf dem Schirm haben. Da natürlich giftige Schlangen bei uns, wo wir beide gerade sitzen, überhaupt nicht vorkommen.

Und selbst wenn wir in Ländern sind, zum Beispiel in Äthiopien, im Jemen, im Südsudan, selbst wenn wir dort wären, Indien, dann würden wir von diesen Giftschlangen nicht gebissen werden, höchstwahrscheinlich. Denn wir arbeiten nicht wie vielleicht Landwirte barfuß auf dem Feld und sind dem Risiko zum Beispiel gar nicht ausgesetzt. Und da ist es eben so, dass natürlich bei der Vergiftung von Schlangenbissen, was eben auch zu diesen vernachlässigten Tropenkrankheiten gehört, es so ist, dass man natürlich schnellstmöglich handeln muss.

Das ist klar. Teilweise wirklich das Leben hängt von Stunden ab bei den Vergiftungen. Und da stellt sich dann die Frage, von welcher Schlange wurde man gebissen? Gibt es überhaupt Diagnosen? Oft kann man gar nicht richtig diagnostizieren, welches Gift ist hier eigentlich, liegt hier vor? Und dann welches Gegengift brauche ich? Und auch die Gegengifte, die teilweise existieren, sind dann vielleicht gar nicht auf das genaue Gift der Schlange, von der man gebissen wurde, angepasst.

Und das ist eben ein ganz klassischer Fall von einer Forschungslücke, weil wir eben viel mehr verschiedene Gegengifte brauchen. Und das Interesse daran, die zu produzieren und zu erforschen, ist leider sehr, sehr gering.

Madeleine: Ja, das ist total erschreckend. Ja, das sind ja Menschenleben. Und man kann sich das aus der Ferne vielleicht manchmal nicht so richtig gut vorstellen, weil man irgendwie nur die Schlagzeilen liest, der und der Ausbruch, da und da und so viel, tausend Tote vielleicht. Aber ja, das sind ja Menschen wie du und ich. Das sind auch Geschwister, Freunde, Muttis, Vatis oder die Kinder von irgendjemandem.

Ich erinnere mich an eine Situation, als ich im Krankenhaus in Mexiko - nicht gearbeitet, aber mitgelaufen bin - das war jetzt kein Ausbruch, das war eine ganz normale Operation an den Mandeln.

Die Mandeln sollten einem achtjährigen Jungen rausgenommen werden, was ein Routineeingriff ist, sowohl in Deutschland als auch in Mexiko. Aber da kann es zu Nachblutungen kommen. Und dieses Blut läuft, auf Deutsch gesagt, den Rachen runter und kann unter Narkose so einen Krampf der Rachenmuskulatur auslösen.

So einen Spasmus nennt man das. Und in dieser Situation war der Junge schon extubiert, also der war nicht mehr beatmet, sollte eigentlich aufwachen aus der Narkose und hat dann im Anschluss diesen Krampf bekommen, konnte auch nicht mehr intubiert werden, also nicht mehr beatmet werden und sollte mit Maske beatmet werden.

Und es gab einfach keine angemessenen Masken für Kinder, sondern nur eine Beatmungsmaske für Erwachsene, wo halt, wenn man die auf die Nase eines Kindes und auf das Gesicht eines Kindes presst, der Sauerstoff einfach rechts und links vorbei strömt.

Und dieses Kind wäre in dieser Situation fast verstorben. Die Anästhesistin hat mir später erzählt, dass letzte Woche tatsächlich ein achtjähriger Junge in dieser Situation verstorben ist. Das ist total drastisch, weil das absolut vermeidbar gewesen wäre.

So eine Sauerstoffmaske für Kinder kostet wenige Cent und sie ist einfach manchmal nicht vorhanden. Und manchmal fehlt uns, finde ich, so ein bisschen die Nähe zu solchen Fällen, um das wirklich nachvollziehen zu können, wie drastisch das ist. Da verliert eine Familie ihr Kind oder vielleicht jemand anderes, Freunde und Angehörige, einfach weil es was nicht gibt und es wäre so vermeidbar.

Das wollte ich an dieser Stelle mal noch teilen.

Madeleine: Total. Und ich stimme dir so sehr zu, dass es natürlich für uns auch hier schwierig ist, sich das vorzustellen.

Das ist ein furchtbares Beispiel, was du gerade geteilt hast. Und ich glaube, dieser Stichpunkt ist vermeidbar. Das ist auch etwas, zu dem ich und zu dem wir in unserer Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen immer wieder zurückkommen.

So viele der Krankheiten der Menschen, die wirklich furchtbar leiden oder die auch ihr Leben verlieren, in so vielen Fällen wäre es vermeidbar gewesen. Und auch das Beispiel mit Kindern, das ist tatsächlich etwas, was auch wir zum Beispiel in der Arbeit, in unserer Behandlung von Tuberkulose-Patient:innen sehen. Dass es sehr, sehr schwierig ist, angepasste Behandlungen mit der richtigen Dosierung zum Beispiel für Kinder zu bekommen.

Also die Forschung geht langsam voran. Bessere Empfehlungen kommen auf den Weg. Aber das ist ein Punkt, das ist für uns hier unvorstellbar, dass ein kleines Kind die Dosis eines Erwachsenen nehmen muss. Schwierige Nebenwirkungen, teilweise auch dann Vergiftungen natürlich durch viel zu überhöhte Dosen. Also es darf eigentlich nicht passieren. Und doch passiert es täglich.

Globale Forschungslücken und ihre Folgen

Madeleine: Ja, eigentlich will ich gar nicht diese Anschlussfrage stellen, weil ich finde, diese Beispiele ganz für sich stehen sollten. Trotzdem ist es, glaube ich, wichtig, vielleicht nochmal den Bezug zu hier zu finden, damit gar nicht erst dieses Gefühl aufkommt von, ach, das ist so weit weg, das betrifft mich gar nicht und ja, die Welt ist irgendwie so ungerecht, da kann ich eh nichts tun. Wie betrifft uns denn diese Forschungslücke, die es gibt und vielleicht auch, Stichwort Ausnutzung, das Patentrechts hier in Deutschland?

Melissa: Meine - aus meiner Perspektive ist es immer eine sehr, sehr politische Perspektive.

Ich arbeite in diesem Bereich globale Gesundheit als politische Referentin. Das heißt, der Zusammenhang, der mir als erstes in den Kopf kommt, ist eben, welche Rolle auch unsere Bundesregierung oder auch die Europäische Union, wenn man noch eine Ebene höher gehen möchte, in diesem gesamten globalen Gesundheitssystem, nenne ich das jetzt mal, spielt. Weil es ist eben so, dass die deutsche Bundesregierung sehr viel Geld zum Beispiel im gesamten globalen Gesundheitsbereich investiert, sei es, wir sind einer der größten Geber der WHO, also der Weltgesundheitsorganisation und aber auch vieler anderen Finanzierungsmechanismen, zum Beispiel zur Behandlung von Tuberkulose, HIV und Malaria, zu Gavi, der Impfstoffallianz.

Also Deutschland gibt sehr, sehr viel Geld, um eben weltweit eigentlich die Gesundheit von Menschen zu verbessern. Und das ist super wichtig. Und die Bundesregierung investiert auch viel in Forschung und Entwicklung, zum Beispiel von vernachlässigten Tropenkrankheiten und auch vielen anderen Infektionskrankheiten.

Und das sind alles gute Dinge. Und trotzdem tragen wir auch eine Verantwortung. Denn die Art und Weise, wie zum Beispiel Forschung und Entwicklung bei uns passieren oder wie die großen Firmen, die auch unter anderem bei uns ansässig sind, nicht dazu ermutigt werden, dass sie eben die Gesundheit an erster Stelle stehen.

Das ist, was ich bei uns ganz klar in der Verantwortung sehe. Also es ist schon deutlich zu sehen, dass eben unsere Industrieinteressen, dass Krankheiten, die uns betreffen, an erster Stelle stehen, dass die wirtschaftlichen Interessen von Pharmafirmen, die bei uns ansässig sind, an erster Stelle stehen. Und eben nicht diese Fälle, von denen wir gerade beispielhaft gesprochen haben.

Madeleine: Ich wollte, glaube ich, einfach nochmal auf diesen weltweiten Zusammenhang, auch von möglicherweise Pandemien hinaus, weil nur weil ein Ausbruch vielleicht lokal irgendwo beginnt, heißt es nicht, dass wir davor geschützt sind in europäischen Ländern oder in nordamerikanischen Ländern. Also da gibt es ja auch medizinisch einfach einen großen Zusammenhang. Und auf der anderen Seite dieses Beispiel Antibiotikaresistenzen zum Beispiel: Nicht alle Antibiotika können wir mehr einsetzen in allen Fällen, wo Antibiotika benötigt werden, weil die Bakterien schon resistent sind. Und das ist was, was uns total betrifft hier im Krankenhaus, dass wir eigentlich eine Notwendigkeit hätten für neu entwickelte Antibiotika, die auch in diesen Fällen greifen, die aber auch nicht so richtig erforscht werden, wo es nicht vorangeht, weil dieser Absatzmarkt auch total klein wäre. Weil die neuen Antibiotika ja nur unter ganz strengen Regeln eingesetzt werden dürften und damit einfach kein großer Absatzmarkt entsteht.

An dieser Stelle wollte ich nochmal so diese Beispiele reinbringen, wie das auch für uns Auswirkungen hat, damit nicht so dieses Gefühl entsteht, ach, es ist so weit weg und irgendwie betrifft es uns gar nicht.

Melissa: Ich stimme dir zu und genau Antibiotikaresistenzen, antimikrobielle Resistenzen sind ein riesengroßes Problem überall auf der Welt.

Madeleine: Überall ja.

Melissa: Ich stimme dir auch zu. Klar, man muss das auch so besprechen, dass das für die Leute, die hier sitzen, relevant ist. Auf der anderen Seite finde ich es, gerade aus der humanitären Perspektive, aus der ich natürlich spreche von Ärzte ohne Grenzen, finde ich es sehr schwierig, dass man sich erst dann mit Themen und Krankheiten auseinandersetzt, wenn sie uns betreffen. Und tatsächlich ist das ja aber die Realität.

Wenn ich zum Beispiel an Ebola denke und die Ausbrüche, den größten Ebola-Ausbruch weltweit, den wir 2014 bis 2016 in Westafrika gesehen haben, es sind über 10.000 Menschen damals bei diesem Ausbruch gestorben. Es gab natürlich auch schon vorher viele Ausbrüche und auch seitdem. Der Ebola-Erreger ist seit den 70er Jahren bekannt.

Aber da eben lange Zeit klar war, das wird uns hier in den reichen Industriestaaten nicht betreffen, war eben gar kein Interesse da, sich um Impfstoffe und Behandlungen zu bemühen. Und erst als dann dieser riesige Ausbruch vor zehn Jahren auch in einzelnen Fällen in die USA und nach Europa übergeschwappt ist, da wurde dann angefangen, massiv staatliche Gelder zu investieren, um eben einen wirksamen Impfstoff und Medikamente, zumindest von dem Sawyer-Strang des Ebola-Viruses zu entwickeln. Und da sehen wir aber leider heute, um das Beispiel vielleicht noch kurz auszuführen, dass diese Medikamente, die mit vor allem Steuergeldern aus den USA entwickelt wurden, zwei sehr, sehr wirksame Medikamente und zugelassen wurden, auch von der WHO mittlerweile, dass sie eben in den Ländern, wo Ebola endemisch ist, also wo es öfters vorkommt, überhaupt nicht zugänglich sind.

Also es ist nicht gesichert, dass wenn der nächste Ebola-Ausbruch in Westafrika stattfindet, dass dann die Menschen dort Zugang zu diesen Medikamenten haben. Die werden nämlich größtenteils in den USA gehortet.

Madeleine: Ja, und dafür sind noch zwei so kleine Side-Facts vielleicht ganz interessant mit diesem Ebola-Beispiel.

Denn auch bevor die ersten Fälle in der USA auftraten, gab es ja schon Forschungen an einem Impfstoff, der aber in der Schublade verschwunden ist und der einfach nicht weiterentwickelt wurde. Also der wurde verkauft an eine Pharmafirma für ein paar hunderttausend Dollar, aber dann die weiteren Tests und die Herstellung blieben aus. Also diese ganzen klinischen Tests wurden einfach nicht weiter durchgeführt, bis dann wirklich die Notwendigkeit auch vor Ort da war.

Und die andere Sache, die ich auch so absolut absurd finde in diesem Fall, ist, dass ja ganz viele Menschen an diesen klinischen Versuchen beteiligt waren in den hauptbetroffenen Ländern und jetzt am Ende ihnen der Impfstoff trotzdem nicht zur Verfügung steht, obwohl sie an der Forschung selbst beteiligt waren.

Melissa: Also ich kann dir nicht mehr zustimmen. Ich sitze hier am Nicken ganz viel, weil genau das sind natürlich die Realitäten, mit denen wir arbeiten.

Es macht mich auch super wütend und es ist einfach unglaublich ungerecht.

Forderungen von Ärzte ohne Grenzen

Madeleine: Ja, genau. Lass uns doch mal ein bisschen lösungsorientierter schauen.

Also was gibt es denn für Strategien, die jetzt Ärzte ohne Grenzen ganz konkret verfolgt, um an dieser Ungerechtigkeit, die uns wütend macht und ganz viele Menschen letzten Endes das Leben kostet auf der Welt, um daran etwas zu verändern?

Melissa: Also was aus unserer Sicht passieren muss, sind vor allem zwei Dinge. Zum einen muss der Zugang zu den schon existierenden Medikamenten, Impfstoffen, Tests verbessert werden. Wir sehen, dass vor allem überhöhte Preise da eine riesige Barriere sind, dass sich Menschen und Gesundheitssysteme oder auch wir als humanitärer Akteur uns diese Preise einfach nicht leisten können für viele Medikamente, zum Beispiel im Bereich Tuberkulose oder HIV, die schon existieren.

Also es muss sich der Zugang verbessern zu den Dingen, die es schon gibt. Und die zweite große Lösung, die wir sehen, ist, dass eben mehr Forschung und Entwicklung passieren muss für Krankheiten, an denen vor allem ärmere Menschen leiden. Ich habe vorhin von den vernachlässigten Tropenkrankheiten oder eben anderen armutsassoziierten Krankheiten gesprochen.

Das sind die zwei großen Dinge, die wir fordern und die wir sehen. Und um das vielleicht konkreter zu machen oder um vielleicht nicht die Ursache, warum ist das so? Es ist ein politisches Versagen aus unserer Perspektive -denn diese Lösung, die könnte es geben.

Es ist ja nicht so, dass wir die medizinischen, wissenschaftlichen Errungenschaften nicht erreichen könnten zum Beispiel oder logistisch das nicht von A nach B bekommen könnten, wenn wir wollen, sondern es ist einfach der politische Wille nicht da, sich damit auseinanderzusetzen, weil das eben strukturelle Veränderungen bedeuten würde. Das würde natürlich, das passt nicht zusammen mit diesem profitorientierten System, in dem wir leben. Und es sollte natürlich aber an erster Stelle die Gesundheit und auch der öffentliche Gesundheitsschutz sollte an erster Stelle stehen.

Und deswegen sehen wir als die wichtigste Lösung eben politische Veränderungen und sehen hier auch ganz konkret, ich habe es eben schon kurz angeschnitten, die deutsche Regierung auch in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen zu setzen, also die Spielregeln so zu setzen, dass dann am Ende wir die Produkte haben im Gesundheitsbereich, die wir brauchen und dass die bei den Leuten ankommen und die die bezahlen können, vor allem wenn sie eben aus öffentlichen Geldern mitfinanziert wurden.

Madeleine: Mhm. Also da kommen mir eigentlich ganz viele Nachfragen. Einmal müssen wir vielleicht noch mal darüber sprechen, woran das überhaupt liegt, dass eine Firma so viel Geld aufrufen darf und kann und da mehr oder weniger freie Hand hat in der Preisgestaltung.

Dann würde mich natürlich total interessieren, wo ihr so die Hebel seht, um der Bundesregierung gegenüber deutlich zu machen, okay, da muss sich was verändern und wo auch der Hebel vielleicht Deutschlands weltweit ist. Aber vielleicht fangen wir doch mal von vorne an. Also warum haben eigentlich Firmen so viel freie Hand und wie kommt es dazu, dass diese Preise so unglaublich hoch sind?

Melissa: Ja, super gute, wichtige Frage. Also genau, die Firmen haben komplett freie Hand darüber, welche Preise sie verlangen, weil so funktioniert die Privatwirtschaft. Man bringt was auf den Markt und dann setzt man die Preise, die man möchte. Und ein wichtiger Aspekt bei Preisen, gerade wenn es eben um Innovationen geht, und hier geht es ja um medizinische Innovationen, eine Rolle spielt, sind eben die geistigen Eigentumsrechte.

Geistige Eigentumsrechte wie Patente erlauben ja dem Hersteller, der das Produkt auf den Markt gebracht hat oder zu Ende entwickelt hat, ein Marktmonopol von 20 Jahren. Das ist so festgelegt bei der Welthandelsorganisation, also der WTO, dass man eben für 20 Jahre diesen Patentschutz, um das jetzt mal verkürzt auszudrücken, auf die Innovation genießen kann. Und in diesen 20 Jahren kann man dann, wenn man seine Patente durchsetzt, dafür sorgen, dass niemand anders das Gleiche herstellen kann.

Und im Bereich von Gesundheit bedeutet das eben, dass die Generikaproduktion zum Beispiel von Medikamenten nicht stattfinden darf, solange diese 20 Jahre Patentschutz halten. Und warum die Preise so gefordert werden können, ist, weil es überhaupt gar keine Transparenz darüber gibt, wie viel hat eigentlich die Entwicklung und die Produktion gekostet. Wenn wir diese Daten hätten, und es werden auch immer wieder Studien, unabhängige Studien in Auftrag gegeben, die versuchen herauszufinden, wie viele Gelder sind hier eigentlich von einem privaten Hersteller geflossen, wie viele Gelder sind aus der öffentlichen Hand geflossen, wie viel hat ungefähr die Forschung und Entwicklung gekostet, die Produktion und so weiter, und wie steht das im Vergleich mit dem geforderten Preis.

Und tatsächlich sieht man immer wieder, dass es in keiner Proportion steht, dass das nicht angemessen ist, welche Preise gefordert werden. Also das vielleicht zu dem Thema Preise.

Madeleine: Das sind ja jetzt auch wieder zwei Themen, also zwei Stellschrauben, wo man ansetzen könnte. Einmal Veränderung des Patentrechts oder zumindest verhindern, dass das Patentrecht weiter ausgenutzt wird. Denn die eine Sache ist, dass man 20 Jahre hat, um eine Monopolstellung zu haben auf dem Markt, was ja vielleicht noch irgendwo nachvollziehbar ist oder zumindest der Grund, weshalb das eingeführt wurde, nachvollziehbar ist. Im Sinne, dass ‚okay, es hat eine Firma diese klinischen Versuche durchgeführt und dafür Geld ausgegeben‘. Und dafür haben sie sich in Anführungszeichen ‚irgendwo dieses Patentrecht für ein paar Jahre verdient‘. Das Problem ist ja aber größtenteils, dass es nicht nur bei 20 Jahren bleibt, sondern dass immer wieder Patente ausgereizt werden auf viele Jahre, bis über 30, manchmal 40 Jahre. Und damit diese Produktion von einem gleichwertigen Wirkstoff, also diesem Generikum, verhindert wird.

Patente waren eigentlich mal als echte Innovationsförderer gedacht und sollten einen Anreiz darstellen für Pharmafirmen. Heute wird das Patentrecht aber an ganz vielen Stellen ausgenutzt. Pharmafirmen weltweit stellen manchmal mehrere hundert Patentanfragen, um ein Patent zu bekommen, das länger als 20 Jahre gilt.

Zum Beispiel wurden in den USA für das Schmerzmedikament ‚Lyrica‘ 118 Patente beantragt, was die Monopolstellung auf 32 statt 20 Jahre verlängerte. Der Preis seit der Markteinführung 2012 wurde zusätzlich dann noch um 163 Prozent angehoben. Und auch neue Medikamente auf den Markt zu bringen, heißt nicht automatisch ständiger Fortschritt und Zusatznutzen. Unabhängige Bewertungen haben gezeigt, und das konnte ich eigentlich gar nicht erst glauben, dass mehr als 50 Prozent der Medikamente, die von 2005 bis 2014 neu auf den Markt kamen, eigentlich gar nichts Neues waren, aber trotzdem ein Patent über 20 Jahre erhielten.

Arbeitet daran Ärzte ohne Grenzen an diesem Thema und siehst du da Dellschrauben, wo vielleicht unsere Bundesregierung Einfluss nehmen kann? Oder hast du das Gefühl, dass das überhaupt gewollt ist?

Melissa: Ich versuche mal, mich von Anfang bis Ende durchzuhangeln. Auf jeden Fall arbeitet Ärzte ohne Grenzen daran, da wir in unserer tagtäglichen Arbeit erleben, dass die Preise so hoch sind, dass Menschen sich die Produkte nicht leisten können, dass Generika in Südafrika für HIV zum Beispiel lange Zeit nicht importiert werden durften und Menschen dann an HIV gestorben sind, an AIDS, obwohl es an anderen Orten diese Medikamente gab.

Deswegen bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auch mit dem geistigen Eigentumsrecht und Patenten auseinanderzusetzen. Es ist eigentlich schon in dem Patentrecht bei der WTO vorgesehen, also technisch gesehen müssen diese Patente gar keine Barriere darstellen, denn es sind in diesem superkomplexen System Flexibilitäten festgelegt zum Schutz öffentlicher Gesundheit. Die sind auch genauso benannt.

Das kann man sich angucken, wenn man möchte im TRIPS-Abkommen, so heißt das. Und diese Flexibilitäten sind eben da, um im Fall von Gesundheitsausbrüchen, also Krankheitsausbrüchen oder wenn eben ein Mangel irgendwo besteht, zu erlauben, dass entweder der Patentinhabende selbst oder die Regierung Lizenzen ausstellen. Das hört sich jetzt vielleicht komplex an, aber eigentlich geht es darum, dass anderen Unternehmen erlaubt wird, auch zu produzieren, in die Produktion einzusteigen.

Das heißt, technisch gesehen ist die Möglichkeit da, rechtlich auch, die wird nur eben nicht genutzt.

Madeleine: Klar, weil auch im Falle eines Ausbruchs das Profitinteresse sicherlich weiterhin im Vordergrund steht. Aber interessant, das wusste ich auch nicht, dass juristisch das eigentlich die Möglichkeit gegeben ist, dass es nicht bei dieser einen Firma bleibt, sondern dass sie diese Lizenzen eigentlich vergeben könnten.

Melissa: Genau, es gibt freiwillige Lizenzen, es gibt Zwangslizenzen und es gibt noch eine Reihe von anderen Mechanismen, die heißen dann TRIPS-Flexibilitäten, indem man das sozusagen nutzen könnte. Und um das vielleicht mal an einem Beispiel darzustellen, wir haben das ja genau während Covid-19 gesehen, dass es eine Zeit lang einen Impfstoffmangel gab und dass die wenigen Hersteller, die diesen Impfstoff produziert haben, nicht die Lizenzen teilen wollten, nicht ihre Technologie und ihr Wissen teilen wollten, sodass eben andere Hersteller in den Markt eintreten können. Das heißt, selbst in einem Pandemiefall, wo uns alle die Pandemie doch sehr, sehr betroffen hat, haben wir gesehen, dass sehr starr an den Monopolrechten festgehalten wurde.

Und darauf zu warten, dass die Hersteller jetzt freiwillig irgendwann ihre Meinung ändern und ihre Lizenzen teilen in einer Pandemie oder auch in lokalen Ausbrüchen, ich glaube, da können wir lange drauf warten. Und deswegen, um den Bogen zu spannen zu deiner Frage, auch was denn Hebel sind, die wir sehen, auch da sehen wir wieder die Politik in der Verantwortung, eben solche Bestimmungen aufrechtzuhalten oder eher zu erstellen, die eben die Hersteller dazu aufrufen, wenn es einen Mangel gibt, dann müsst ihr eure Technologien, eure Lizenzen mit anderen Herstellern teilen, damit eben mehrere in den Markt einsteigen können. Und das ist was, das wir während Covid-19 nicht gesehen haben.

Das ist ein Thema, das gerade aktuell auch in dem Pandemievertrag, der wird bei der WHO ausgehandelt, auch ein großer Knackpunkt ist. Und das ist ein Hebel, den wir hier schon in der Hand haben.

Madeleine:

Den Einsatz von Zwangslizenzen machen uns andere Länder eigentlich schon vor.

In Indien muss ein Patentinhaber zum Beispiel offenlegen, inwieweit das Patent auch wirklich genutzt wurde. Also, ob die Patient:innengruppe wirklich Zugang zum Medikament hatte. Wenn sich das Medikament jemand leisten kann, kann das als nicht genutztes Patent betrachtet werden und damit als Weigerung eine Innovation der breiten Masse zur Verfügung zu stellen. In Indien wurde in diesen Fällen schon mehrfach staatlich eingegriffen. Das Patent wurde einer Zwangslizenz unterworfen und andere Firmen durften den Wirkstoff dann herstellen und billiger anbieten.

Melissa: Und aber ein zweites, einen zweiten Hebel, den wir auch für sehr wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger halten, ist, dass man am Anfang anfängt.

Das heißt, wenn überhaupt öffentliche Gelder in Forschung und Entwicklung investiert werden, was ja oft der Fall ist, unter anderem von der deutschen Bundesregierung, anderen europäischen Staaten, den USA, dass man von Anfang an festlegt, hier sind die Gelder, bitte entwickelt dieses Produkt für uns, was wir brauchen, diesen Impfstoff, dieses Medikament. Wenn es dann marktreif ist, dann erwarten wir von euch, dass das zu angemessenen Preisen überall, wo es gebraucht wird, verfügbar gemacht wird. Oder zum Beispiel auch, dass ihr die Lizenz mit drei weiteren Herstellern in drei verschiedenen Regionen teilt. Das könnte man machen.

Madeleine: Okay, also das ist dieses Stichwort an öffentliche Gelder auch Bedingungen zu knüpfen.

Lass uns mal kurz zurückspulen, was hat es mit diesen hohen öffentlichen Geldern auf sich? Es ist nämlich so, Grundlagenforschung, also zum Beispiel die Suche nach neuen Wirkstoffen, verläuft meistens erstmal an Hochschulen. Die sind überwiegend öffentlich finanziert und für ihre Forschungsvorhaben erhalten sie öffentliche Fördergelder. Wenn etwas Vielversprechendes gefunden wurde, vergibt die Uni eine Exklusivlizenz an interessierte Unternehmen. Denn Hochschulen haben irgendwann nicht mehr die Kapazitäten, klinische Studien mit vielen tausenden Patient:innen durchzuführen.

Ob was aus dem Wirkstoff wird oder nicht, zeigt sich erst in den klinischen Studien, ist also auch für Pharmaunternehmen risikoreich. Aber wenn es zu einer Zulassung kommt, eben auch sehr profitabel. Und Unternehmen können sich natürlich raussuchen, mit welchen Wirkstoffen sie weiterforschen und werden immer nach potenziellen Wachstumsmärkten suchen.

Das führt zu dieser Verschiebung von bedarfsorientierten Forschung zur Gewinnorientierung. Und die Bevölkerung zahlt eigentlich zweimal. Einmal bei öffentlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung und später die hohen Medikamentenpreise.

Deswegen fordert Ärzte ohne Grenzen, dass an die Vergabe von Patenten Bedingungen geknüpft werden können, weil der Staat ja an der Entwicklung finanziell beteiligt war.

Forschungspolitik: Wer entscheidet über Gesundheitsinnovationen?

Ich weiß, dass du da auch ganz konkret in Verhandlungen, bilateralen Gesprächen drin sitzt. Mit wem spricht man da und was sind deine Erfahrungen, wenn du dieses Thema auf den Tisch bringst? Auf welche Reaktionen stößt du denn und vielleicht auch insgesamt ihr in der Arbeit bei Ärzte ohne Grenzen?

Melissa: Ja, ich würde sagen auf gemischte Reaktionen, um das mal so auszudrücken.

Auf der einen Seite ist es natürlich so, dass die Meinung und die Expertise und die Erfahrungen von Ärzte ohne Grenzen sehr willkommen geheißen werden. Gerade auch in Ausbruchssituationen, sei es Ebola, sei es Covid, sei es jetzt M-Pocks aktuell. Da ist es schon so, dass wir eingeladen werden und gefragt werden, wie sieht es denn aus vor Ort und was braucht ihr und was können wir tun? Also da ist schon Interesse und Bereitschaft da, auch von der Seite der Ministerien.Da ist jetzt zum Beispiel das Gesundheitsministerium, also das BMG oder das Entwicklungsministerium, das BMZ, bei M-Pocks zum Beispiel zuständig.

Und wenn es aber um strukturelle Veränderungen geht, dann ist es natürlich schon eine andere Debatte, die man führt. Denn zum Beispiel im Bereich dieser Forschungsförderung und dieser Bedingungen an Forschungsförderung, von denen wir gerade gesprochen haben, da ist natürlich, wie man sich denken kann, das Forschungsministerium zuständig -oder mit zuständig. Und da ist es schon so, dass da viele andere Interessen auch vorherrschen und dass man da schon angehört wird. Aber auch klar ist, dass das wird bei uns nicht passieren, weil das ist konträr zu dem, an das wir eigentlich glauben oder was wir an Interessen vertreten. Und es ist kompliziert und es ist ja auch klar, es entscheidet nicht ein Ministerium alleine über die Position. Es ist immer eine sogenannte Ressortabstimmung. Das heißt, alle relevanten Ministerien kommen zusammen und entscheiden über die Position. Und wir sehen schon, dass da ganz klar wirtschaftliche Interessen in Konflikt stehen mit den Gesundheitsinteressen, die wir vertreten.

Madeleine: Das sind so zwei Gesichter einfach. Auf der einen Seite werdet ihr sehr gut angehört und eure Meinung als sehr wichtig empfunden, wenn es um aktuelle Dinge geht. Aber die aktuellen Probleme und den fehlenden Zugang aktuell zu Medikamenten oder Diagnostika, das hat ja alles strukturelle Ursachen.

Und ich stelle mir das sehr, sehr frustrierend vor, wenn man diese strukturellen Dinge angehen möchte in solchen Verhandlungen, dass dann auf einmal die Tür so ein bisschen wieder zuschlägt.

Melissa: Es ist auf jeden Fall, also auf persönlicher Ebene ist es frustrierend, aber vor allem ist es frustrierend auf der Ebene, dass man ja weiß, dass man in Kontakt ist mit unseren Kolleg:innen, die an vorderster Front versuchen, Patient:innen zu behandeln und dass die das eben nicht machen können. Und dass es auch teils daran liegt, welche Art von politischen Entscheidungen in Deutschland, in Europa und in den USA getroffen werden oder bei Gremien wie der WTO in Genf.

Und mir ist es persönlich einfach unerklärlich, wie man diesen Zusammenhang nicht sieht oder die Verantwortung nicht bei sich selber sieht, wenn man doch eines der einflussreichsten Länder, eines der reichsten Länder der Welt ist.

Madeleine: Und insbesondere habe ich vorhin auch gedacht, dass so ein Forschungsministerium ja eigentlich, so stelle ich es mir zumindest vor, irgendwie eine öffentliche Einrichtung ist, die jetzt nicht, es ist ja nicht die Pharmafirma selbst, mit dem man da am Tisch sitzt.

Melissa: Es ist nicht die Pharmafirma selbst, aber ich glaube, auch das wurde ja während Covid-19 ziemlich deutlich. Da sind ja auch alle möglichen Gespräche zwischen Herstellern, direkt mit Angela Merkel damals noch und mit Ursula von der Leyen. Also es wurde ja auch viel in den Medien geleakt, was schon gezeigt hat, dass der Draht sehr, sehr eng ist. Auf jeden Fall sehr viel enger als der Draht zum Beispiel mit Ärzte ohne Grenzen.

Wer zahlt wirklich für Forschung?

Madeleine: Mhm. Okay. Ich hoffe, dass ihr den Draht irgendwie weiter stärken könnt und den Einfluss von diesem (…) Interesse oder von dieser Meinung stärken könnt. Vielleicht gehen wir noch mal zu dem Punkt Transparenz in der Forschung.

Das ist ja ein großer anderer Punkt und auch Transparenz von Ergebnissen. Wie viel kostet etwas? Wie können wir das einfordern? Weil ich weiß auch, dass Ärzte ohne Grenzen daran auch politisch arbeitet.

Melissa: Genau. Also die Transparenz ist ein riesiger Begriff. Was meinen wir mit Transparenz? Wir könnten über ganz viele Aspekte von Transparenz sprechen. Du hast schon ein paar gerade angesprochen. Also zum einen natürlich Transparenz, was Kosten und Preise der Medikamente, Impfstoffe und Tests angeht. Aber eben auch Transparenz über Forschungsergebnisse, Daten von klinischen Studien. Das sind ja alles Dinge, die oft geheim gehalten werden. Das hängt teilweise mit dem Patentschutz, mit den geistigen Eigentumsrechten zusammen. Das sind dann Datenexklusivitäten zum Beispiel, von denen man spricht. Das führt dann unter anderem dazu, wenn man sich Transparenz, was Forschungsergebnisse anguckt -das führt dann dazu, dass eben teilweise klinische Studien nochmal durchgeführt werden müssen, obwohl die eigentlich schon an einer anderen Stelle passiert sind. Was auch einfach komplett unethisch ist. Und dass eben auch Forschungskooperationen damit ja so gut wie gar nicht stattfinden.

Denn wenn jeder für sich forscht und dann die Ergebnisse für 20 Jahre geheim hält oder oft sogar noch länger, dann kooperieren wir gar nicht so gut, wie man es könnte. Der wissenschaftliche Fortschritt könnte vielleicht noch größer sein. Und auch hier ist es so, im Bereich Transparenz, dass schon vor einigen Jahren bei der Weltgesundheitsversammlung in Genf eine Resolution zum Thema Transparenz veröffentlicht und auch angenommen wurde, die sich mit diesem riesigen Thema auseinandersetzt.

Und jetzt liegt es an den Mitgliedstaaten, diese Punkte umzusetzen. Und genau da kommen wir wieder zurück zum Punkt politischer Wille. Ist der politische Wille da, für mehr Transparenz sich einzusetzen? Leider nicht ausreichend.

Madeleine: Und wie könnte man das in Deutschland zumindest einfordern? Ich stelle mir das auch schwierig vor, weil es sind ja sehr viele einflussreiche Nationen weltweit. Und irgendwie muss man, glaube ich, auf jede Regierung einen Einfluss nehmen. Aber jetzt bleiben wir mal bei Deutschland.

Wie – ja wie kann man sie dazu zwingen?

Melissa: Ja, ich glaube, dazu zwingen kann man sie nicht. Man kann sie versuchen, immer wieder dazu aufzufordern, was unter anderem wir ja auch tun, indem wir sagen: Das sind die Auswirkungen ganz konkret, die wir sehen, weil es hier keine Transparenz gab, zum Beispiel. Auch da wird das Beispiel Covid-19, die Preise, die für die Impfstoffe in der EU im Gegensatz zu Südafrika oder den USA oder Gambia gefordert wurden, die stehen in keinem Verhältnis.

Und hätten wir mehr Transparenz darüber, wie sich Preisgestaltungen zusammensetzen, dann könnten auch Preise nicht mehr so gerechtfertigt werden, wie es jetzt einfach gerade passiert.

Madeleine:

Lasst mich das mal auf den Punkt bringen. Die Begründungen der Pharmafirma für die hohen Kosten der Medikamente ist meistens die Kostendeckung ihrer Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Was die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs aber wirklich gekostet hat, wird als Geschäftsgeheimnis gehütet. Zahlen zwischen 1,2 und 2,6 Milliarden US-Dollar fallen seitens der Pharmaindustrie. Unabhängige Modellrechnungen kommen auf 50 bis maximal 200 Millionen US-Dollar und da fehlen doch einige Nullen bis zu den Angaben der Industrie.

Ohne die Auflagen kostentransparent zu machen, werden wir es nie genau wissen. Anlass zum Zweifeln gibt mir das Ergebnis eines kanadischen Forschungsteams. Pharmafirmen geben mittlerweile nämlich fast doppelt so viel Geld aus für Werbung im Vergleich zur Forschung. Und insbesondere wird dann mehr Geld ausgegeben für Marketing, je geringer der Nutzen eines Medikaments ist.

(Soundsignal Einschub Ende)

Melissa: Wir versuchen immer wieder diese Beispiele so konkret wie möglich mitzunehmen, unsere Analyse zu teilen und zu hoffen, dass sich was tut.

Die ‚Time for $5‘-Kampagne

Von Verhandlungen zu Kampagnen

Madeleine: Ja, das ist mir jetzt ein bisschen deutlicher geworden, also wie da genau eure Kampagne abläuft, eure Arbeit ganz konkret wie ihr Einfluss hofft zu nehmen.

Ich weiß, es gibt auch auf jeden Fall einige Beispiele, wo das schon gut geklappt hat. Vielleicht kannst du da auch noch eins für uns teilen, damit man am Ende auch nochmal so ein Erfolgsbeispiel vor Augen hat, wo öffentlicher Druck und wo vielleicht auch konkret die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen an diesem Thema schon richtig viel gebracht hat. Hast du da was, was du mit uns teilen kannst?

Melissa: Auf jeden Fall, weil genau diese Erfolge, die gibt es auch immer mal wieder.

Ich glaube, das aktuellste Beispiel, was ich mitbringen kann, da geht es um Tests, die heißen GeneXpert Tests und die werden zur Diagnose von Tuberkulose, von HIV, auch von Covid-19, von sexuell übertragbaren Krankheiten genutzt weltweit. Die sind ein super wirksamer Test, einfach anzuwenden, schnelles Ergebnis, exakt, also auch für Ärzte ohne Grenzen sehr, sehr relevant. Und dieser Test, GeneXpert Tests, der wird von dem Hersteller Cepheid, das ist ein US-amerikanischer Hersteller, vertrieben.

Und wir haben seit Jahren beobachtet, dass eben die Tests viel zu teuer sind. Also, dass die Produktionskosten ungefähr auf drei bis vier Dollar geschätzt wurden und die Tests aber für circa 10 bis 20 Dollar pro Stück verkauft wurden. Und das ist eben für viele Gesundheitssysteme ein riesiges Investment.

Und das bedeutet dann, dass sie eventuell weniger Tests und damit weniger Diagnosen durchführen, als sie eigentlich müssten. Und das Gleiche bedeutet das für uns bei Ärzte ohne Grenzen. Und dann haben wir angefangen, mit diesem Hersteller hinter verschlossenen Türen zu sprechen, in Preisverhandlungen zu gehen, unsere Sorgen und Erfahrungen eben anzubringen und haben dann irgendwann eben eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben, die versucht hat, herauszufinden, eben genau diese Zahl, was waren die ungefähren Kosten der Produktion, was wäre ein angemessener Profit pro Test und wo liegt die Realität.

Und dann haben wir eine Kampagne angefangen. Und was wir auch in diesen Studien versucht haben, noch vorher herauszufinden, ist, wie viel Geld ungefähr wurde aus öffentlicher Hand investiert, um diese Tests zu entwickeln und wie viel aus privater. Und hier sind wir auch wieder beim Stichpunkt Transparenz. Es ist sehr schwierig herauszufinden. Und was wir aber herausgefunden haben, ist, dass die öffentliche Hand über 250 Millionen in den letzten zehn Jahren investiert hat, viel mehr als der Hersteller selbst. Und mit diesen ganzen Informationen, nachdem wir mit freundlichen Gesprächen, Briefen nicht weiterkamen, haben wir eine Kampagne angefangen.

Und die Kampagne hieß dann ‚Time for $5‘. Also es ist Zeit für fünf, sozusagen für die 5-Dollar-Tests statt 10 bis 20 Dollar. Und das war weltweite Kampagne gewesen, also auch an allen anderen Orten der Welt, vor allem natürlich in den USA, wo die Hersteller sitzen.

Und öffentlicher Druck, Petitionen, die wir dann eingereicht haben, auch vor allem über Social Media, haben dann dazu geführt, dass der Hersteller den Preis für einen der Tests allerdings nur, um 20 Prozent reduziert hat. Das ist ja schon mal ein Teilerfolg.

Madeleine: Ja, total. Also letzten Endes sind das tatsächlich so öffentliche Kampagnen, die dann doch irgendwie den Einfluss haben. Und nicht, sage ich mal, irgendein juristischer Hebel oder irgendwo, wo man jemanden juristisch, also eine Firma juristisch zu irgendwas zwingen kann, sondern tatsächlich so diese Tippeltappeltour an öffentlicher Arbeit, die dazu geführt hat.

Melissa: Und diese öffentliche Arbeit, die findet viele Jahre im Hintergrund statt.

Das ist jetzt nicht von eins aufs andere Jahr, dass wir jetzt auf die Idee kommen würden, öffentlich eine Pharmafirma so anzugehen. Aber wenn man eben über Jahre anders nicht weiterkommt, dann ist das sozusagen die letzte, ich nenne es mal, Eskalationsstufe, die wir dann sehen. Weil wir brauchen diese Tests zum Beispiel zur Diagnose von resistenten Formen von Tuberkulose. Wenn man Menschen nicht angemessen diagnostizieren kann, kann man sie auch nicht behandeln. Und da ist wieder dieser sehr direkte Link zwischen diesem sehr abstrakten Preise-Pharmafirma-Thema und unseren Patient:innen.

Bedaquilin: Wie ein Patentstreit Leben rettet

Madeleine: Ja, ich würde echt sehr, sehr gerne mal Mäusen spielen in solchen Gesprächen und Verhandlungen. Ich kann es mir immer sehr schwer vorstellen, wie man da am Tisch sitzt und vielleicht auch Dinge gesagt werden und danach nicht gemacht werden und etc. Also das finde ich schon sehr spannend. Und wenn wir jetzt eh gerade bei Tuberkulose und vielleicht ein bisschen Erfolgsstories sind, hast du noch Lust, die Erfolgsstory über Bedaquilin zu teilen?

Melissa: Ja, sehr, sehr gerne.

Madeleine: Eigentlich finde ich diese konkreten Beispiele sehr anschaulich und sehr, sehr spannend.

Melissa: Ja, total. Also Bedaquilin, für die, die dieses Medikament nicht kennen, wird zur Behandlung von resistenten Formen von Tuberkulose eingesetzt.

Tuberkulose, um vielleicht nochmal einen halben Schritt zurückzugehen, ist weiterhin die tödlichste Infektionskrankheit weltweit. Vor wenigen Tagen ist der neuste Bericht der WHO veröffentlicht worden, der eben die Zahlen nochmal ziemlich gut aufdröselt. Und dieses Medikament Bedaquilin ist eben eins der wichtigsten Medikamente zur Behandlung dieser resistenten Formen und wird vom Hersteller Johnson & Johnson produziert.

Und auch hier ist es so, dass drei bis fünf Mal mehr öffentliche Gelder geflossen sind als private Gelder, um dieses Medikament zu entwickeln. Auch hier wieder Stichpunkt Transparenz. Es ist schwierig, genaue Zahlen zu finden, aber drei bis fünf Mal öffentlich -mehr öffentliche Gelder.

Und es hat sehr viele Jahre gedauert, um diesen extrem hohen Preis, den der Hersteller für Bedaquilin gefordert hat, zu senken. Und das andere Thema waren eben Patente, weil der Hersteller versucht hat, obwohl das Patent eigentlich Ende letzten Jahres ausgelaufen ist, in vielen weiteren Ländern diese Sekundärpatente, von denen du vorhin auch schon gesprochen hast, also Patentverlängerung sozusagen, zu beantragen. Und wir wissen ja, dass es eben super wichtig ist, dass das nicht passiert, damit günstigere Generika auf den Markt kommen und mehr Menschen sich die Medikamente leisten können.

Und genau, Johnson & Johnson hatte eben versucht, durch Sekundärpatente dieses Marktmonopol aufrechtzuerhalten. Und es hat dann sehr viel Gegenwind gegeben, unter anderem auch von zwei ehemaligen Patient:innen von Ärzte ohne Grenzen, die eben an multiresistenter Tuberkulose erkrankt waren. Die sind vor das indische Patentamt gezogen und haben das angefechtet, haben diese Patentverlängerung angefechtet und haben vom indischen Patentamt Recht bekommen.

Und das ist natürlich ein riesiger Erfolg gewesen, weil das dazu geführt hat, dass endlich Generika produziert werden konnten. Und das aus der Stimme von Personen zu hören, die durch diese Krankheit und durch diese sehr schwierige Behandlung selber mit eigenen Fußstapfen getreten sind, war was ganz Besonderes.

Madeleine: Ja, das macht mir richtig Gänsehaut, dass es auch tatsächlich geklappt hat.

Melissa: Genau, also auch das hat viele Jahre gedauert. Und auch das hat nicht Ärzte ohne Grenzen alleine, sondern immer in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, Aktivist:innen, Patient:innen, Gruppen sozusagen geschafft. Und ich glaube, was wirklich aber so powerful, also so toll an dieser Geschichte war, dass einer der beiden Patient:innen, Phumeza Tisile, wirklich aus ihrer persönlichen Perspektive gesprochen hat.

Sie ist damals mit älteren Medikamenten behandelt worden, weil es dieses Bedaquilin noch gar nicht gab zu dem Zeitpunkt, hat zwischen 20.000 bis 30.000 Tabletten im Laufe dieser Behandlung schlucken müssen, hat täglich Injektionen, schmerzhafte, über sich ergehen lassen müssen und ist tatsächlich taub geworden als Nebenwirkung von diesen Medikamenten.

Madeleine: Oh Gott.

Melissa: Und hat wirklich aus dieser Perspektive erzählt, jetzt gibt es dieses neue Medikament, was die Behandlung verkürzt, wo es keine täglichen Injektionen mehr braucht, wo Menschen nicht daran taub werden oder andere furchtbare Nebenwirkungen haben.

Das muss überall zugänglich sein, wo es gebraucht wird.

Madeleine: Ja, das ist auf jeden Fall eine sehr, sehr eindrückliche Story. Und letzten Endes hat Johnson & Johnson als Pharmaindustrie oder musste dem zustimmen, dass günstigere Generika jetzt hergestellt werden können, richtig?

Melissa: Genau, ja.

Madeleine: Genau, also diese Sekundärpatente, diese Patentverlängerung konnten sie nicht durchsetzen.

Melissa: Das wurde abgelehnt.

Madeleine: Das ist wirklich ein Riesenerfolg. Das macht mir richtig Gänsehaut. Ja. Okay, ich finde es sehr schön, mit so einer Erfolgsstory vielleicht auch zu schließen.

Gibt es von deiner Seite noch etwas, was du gerne hinzufügen möchtest zu all dem, worüber wir heute gesprochen haben?

Melissa: Ich würde nichts hinzufügen, aber ich würde es vielleicht noch mal wiederholen für die, die vielleicht fünf Minuten kurz auch sich ausgeschaltet und wieder eingeschaltet haben. Dass aus unserer Perspektive es unglaublich wichtig ist, dass die Gesundheitsinteressen vor allen anderen Interessen stehen. Und dass wenn es politische Interessenkonflikte gibt, und die gibt es halt in der sehr imperfekten Welt, in der wir leben, dass es die Verantwortung von den Entscheidungstragenden ist, diesen Interessenkonflikt zu beheben, sodass eben alle Menschen, die Gesundheitsversorgung bekommen, die Medikamente bekommen, nicht an Krankheiten sterben müssen, die eigentlich vermeidbar wären.

Melissas Utopie für eine gerechtere Gesundheitsversorgung

Madeleine: Eigentlich ist unsere letzte Frage immer, was deine Utopie oder deine Zukunftsvision ist für die Medizin der Zukunft. Aber das ist genau das, oder?

Melissa: Also erst mal eine super schöne Frage, um die ich mir wahrscheinlich viel zu wenig Gedanken mache. Ich würde sagen, ein utopisches Szenario, was ich mir wünschen würde und was eigentlich gar nicht so weit weg sein müsste, ist, dass alle Gelder, die die Bundesregierung im Bereich Forschung und Entwicklung investiert, um neue Krankheiten zu erforschen und neue Gegenmaßnahmen, dass die mit den Bedingungen einhergehen, dass das Produkt für alle, die es brauchen, bezahlbar ist, dass es keinen Monopolmarkt auf dieses Produkt geht. Wir reden hier über Gesundheit, dass transparent gemacht wird, welche Forschungsergebnisse, welche klinischen Studien und so weiter. Also ich glaube, das ist meine utopische Vorstellung, die uns einen großen Schritt voranbringen würde.

Madeleine: Ja, ich habe heute in diesem Gespräch eine Achterbahn der Gefühle durchlebt von ganz viel Wut und Unverständnis und diesem unglaublichen Gefühl von Unfairness.

Das sind so die positiven Beispiele, die mich sehr bewegen und die ich total beeindruckend finde. Vielen lieben Dank für das Teilen von deinen Eindrücken und von den Forderungen und ein bisschen aus deiner Arbeit. Vielen lieben Dank, Melissa.

Melissa: Sehr gerne. Es hat sehr viel Spaß gemacht, mit dir zu sprechen. Ja, danke für die Einladung. Es war echt toll.

Madeleine: Sehr schön. Dann hoffe ich, dass ihr, liebe Hörerinnen und Hörer, auch so viel mitnehmen konntet und dass ihr ja auch positiv rausgeht und diese Arbeit unterstützen könnt, die ganz viele Organisationen, unter anderem Ärzte ohne Grenzen.

Vielen Dank an euch fürs Zuhören. Wenn wir euch heute ein bisschen inspirieren können, freue ich uns über eure finanzielle Unterstützung auf unserer Website oder über eine Bewertung in eurer Lieblings-Podcast-Plattform. Abonniert auch gerne unsere Newsletter oder folgt uns auf Instagram, wenn ihr keine Folge mehr verpassen wollt.

In diesem Sinne, bleibt gesund, neugierig und optimistisch. Bis ganz bald.